von Gwen Gründel

Stell dir folgendes Szenario vor: Du befindest dich in einem Zug, eingepfercht zwischen tausend anderen Menschen. Du siehst nichts. Es ist kalt. Dein Körper streikt vor Hunger. Du kannst kaum atmen oder dich auf den Beinen halten. Du weißt nicht, wie lange dieser Zustand noch andauern wird und hast keinerlei Vorstellung davon, wohin du gebracht wirst. Um dich herum panisches Stimmengewirr und ein von allen Seiten auf dich einwirkender Druck. Massenpanik. Ein Gefühl der Ohnmacht. Du hast Todesangst – für die meisten etwas Unvorstellbares. Höchstens ein Alptraum, aus dem man schweißgebadet erwacht, um anschließend erleichtert aufzuatmen, sich umzudrehen und behaglich weiterzuschlafen.

Für die zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes (NS-Regime) deportierten Häftlinge, z.B. in das Konzentrationslager Dachau, war dies der Beginn einer Folge an unvorstellbaren Grausamkeiten. Und alles mit nur einem Ziel: ihrem Tod. Der größte und grausamste Genozid der menschlichen Geschichte: der Holocaust. Jedem bekannt und dennoch den meisten Menschen in seinem Ausmaß und seiner Abscheulichkeit so fern.

Ein Massenmord, der Fragen aufwirft: Wie konnte es zu einem so abscheulichen Verbrechen kommen und wer sind die Schuldtragenden? Welche Auswirkungen hat der Holocaust auf das Leben der heutigen jüdischen Bevölkerung und wie kann man selbst den richtigen Umgang mit solch einem unentschuldbaren Verbrechen finden?

Diese und etliche weitere Fragen stellten sich unter der Leitung von Frau Röhm und Herrn Koch 15 Schülerinnen und Schüler aus der Q1 (12. Klasse) der Albert-Schweitzer-Schule Offenbach. Bei einer fünftägigen Studienfahrt sahen sich alle Teilnehmenden dabei nicht nur mit erschreckenden Wahrheiten, sondern gleichermaßen mit angsteinflößenden Tatsachen und herzergreifenden Biografien konfrontiert.

Nach der Anreise am 24.01.2023 im Max Mannheimer Haus nahe der Gedenkstätte Dachau erfolgte für die Schülerinnen und Schüler dahingehend zunächst eine thematische Einführung seitens der Gruppenleiterinnen Stefania Gavazza-Zuber und Cecilia Mussini. Jene umfasste dabei Informationen über die ehemalige Anzahl an Konzentrationslagern (KZs). „Kriterien“ für eine Inhaftierung waren beispielsweise, ob jemand als „jüdischstämmig“, homosexuell, oder „asozial“ eingestuft wurde oder vermeintliche Kriegsverbrechen begangen hat. Im Zuge dessen konnten die Schülerinnen und Schüler zudem eigenständig Kopien von Relikten, wie beispielsweise Propagandaplakaten, Inhaftierungslisten, Fotografien oder Zeichnungen von Inhaftierten, ansehen und besprechen.

Anschließend stand am zweiten Tag der Besuch der Gedenkstätte Dachau an. Dieser stellte trotz der zuvor erfolgten intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema eine enorme mentale Herausforderung dar. So war bereits der Weg zur und das Betreten der Gedenkstätte etwas, was keiner der Schülerinnen und Schüler je zuvor erlebt hatte. Einige empfanden allein die Luft innerhalb der Gedenkstätte als andersartig, während andere eine plötzliche Schwere oder gar Angst verspürten.

Die anschließenden Stunden vor Ort standen den anfänglich empfundenen Gefühlen in nichts nach. Eine große Rolle nahmen dabei die im Museum dargelegten Biografien wie auch die ausgestellten Besitztümer ehemaliger Inhaftierter oder verbliebene Gegenstände aus dem Lager ein. Die Visualisierung des bereits zuvor Gehörten entfachte dabei eine zuvor ungeahnte Nähe und Betroffenheit. Ebenfalls schockierend waren die Nachbildungen der Baracken wie auch das Krematorium und der daran angrenzende Friedhof. Der Anblick der dort befindlichen Gaskammern, welche als „Brausebad“ getarnt für Experimente an Häftlingen genutzt wurden, stellte wohl den grausamsten Teil der Gedenkstätte dar. Ebenfalls erschütternd anzusehen waren die an das Museum angrenzenden Einzel-und Stehzellen, welche ebenfalls als Mittel der Qual und Bestrafung verwendet wurden. 

Nach dem Verlassen der Gedenkstätte geschah etwas äußerst Absonderliches: In dem Moment, als die Schülerinnen und Schüler durch die Tore der Gedenkstätte schritten, erhob sich ein riesiger Schwarm Raben aus mehreren Baumkronen. Die anfängliche Verwirrung und der eintretende Grusel lösten sich jedoch schnell auf. Es schien wie ein Zeichen – als wäre es den Abertausenden auch nach ihrem Tod auf dem Gelände gefangenen Seelen nun möglich, frei davonzufliegen, um in Frieden zu ruhen. Ein Gefühl von Hoffnung.

Dennoch stellte der darauffolgende Tag eine nicht minder große Herausforderung dar. Am Mittwochvormittag stand diesbezüglich zuerst das Zeitzeugengespräch mit Frau Dr. Eva Umlauf an. Dieses war zuvor in gemeinsamer Gruppenarbeit vorbereitet worden und wurde nach Abschluss reflektiert. Das weitergegebene Wissen wie auch die persönliche Heranführung an die Thematik waren dabei für alle Beteiligten unglaublich bereichernd und unvergesslich. Noch am gleichen Nachmittag stand sodann ein Besuch der nahegelegenen Gedenkstätte Hebertshausen an. Jene diente früher der Gefangennahme und Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen. Auch hier erlangten alle Beteiligten Einsicht in viele Biografien der dort Ermordeten und erhielten Informationen über die weitere Historie des Ortes. Dieser war nach der Invasion der Amerikaner Jahre nach der Befreiung der NS-Gefangenen weiterhin als Übungsplatz für amerikanische Soldaten verwendet worden. Schockierend war nebstdem auch, dass das dortige ehemalige Gasthaus der NS-Soldaten heute als Unterbringungsort für Obdachlose, Flüchtlinge oder allgemein Hilfsbedürftige genutzt wird. Nach der Rückkehr in die Jugendherberge erfolgte daraufhin die Erstellung eines so genannten Schuldbarometers. Dieses diente der Evaluation des am Tag Erlebten und der Zuweisung von Verantwortung bezüglich der Verbrechen unter der NS-Herrschaft.

Am nächsten Tag unternahm die Gruppe zum Ende der Studienfahrt einen Tagesausflug nach München. Dieser begann mit einer detailreichen Führung durch das dortige NS-Dokumentationsmuseum und wurde mit einem gemeinsamen Essen abgeschlossen. Hier war es allen möglich, das Erlebte der Woche für einen Moment zu vergessen und ausgelassen miteinander Zeit zu verbringen. Gedanken, Gefühle, Sorgen oder auch Fragen fanden den Rest der Woche über dabei stets in einem abendlichen Ritual, Reflexionsrunde genannt, ihren Platz.

Am Abreisetag nutzte die Gruppe ihren letzten gemeinsamen Morgen für eine intensive Nachbesprechung der Woche und eine Auseinandersetzung mit heutigem, sekundärem Antisemitismus. Der Film „Masel Tov Cocktail” fungierte hierbei als realitätsgetreue Veranschaulichung und brachte zuvor unbekannte Problematiken näher. Allgemein nahmen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Vielzahl an Eindrücken, Informationen, Erfahrungen und bleibenden Erinnerungen mit. Die dabei wichtigste Botschaft, welche alle Teilnehmenden für sich mitnahmen, war jedoch wenig komplex: „Nie wieder. Nie wieder zulassen, dass solche Verbrechen geschehen. Nie wieder untätig bleiben, wenn man selbst Gewalt und Diskriminierung miterlebt. Nie wieder schweigen, wenn man die Möglichkeit hat, sich gegen Unrecht auszusprechen. Nie wieder unbegründeter Hass, Gewalt und Tyrannei. Nie wieder wegschauen. Nie wieder Antisemitismus.“ Ein Satz, nach dem auch du dich in deinem Handeln richten solltest. Ein Satz von Dauer.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner